Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat am 23.06.2022 die zweite Stufe des Notfallplans Gas ausgerufen, die sog. Alarmstufe. Sie ist nach der sog. Frühwarnstufe, die das BMWK am 30.03.2022 festgestellt hat, der zweite von drei Schritten, die im Notfallplan Gas vorgesehen sind. Hintergrund sind im Wesentlichen die Kürzungen der Gaslieferungen aus Russland. Der Angriffskrieg von Wladimir Putin in der Ukraine führt daher nicht nur zu unbeschreiblichem Leid für die ukrainische Bevölkerung. Er hat außerdem zur Folge, dass sich eine bedrohliche Gasknappheit in Deutschland, und auch im restlichen Europa, nicht mehr ausschließen lässt.
Es ist demnach an der Zeit, sich auf das Szenario vorzubereiten, dass im kommenden Herbst oder Winter die dritte und letzte Stufe des Notfallplans Gas, die sog. Notfallstufe, festgestellt werden muss. Mit der folgenden Darstellung wollen wir einen kurzen Überblick über die Maßnahmen geben, die vom BMWK oder der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen (BNetzA) bei der Durchführung der Notfallstufe ergriffen werden können. In diesem Zusammenhang wollen wir auch über die Möglichkeiten informieren, sich als Betroffener gegen die Maßnahmen gerichtlich zur Wehr zu setzen oder zumindest eine finanzielle Kompensation zu erhalten.
Die rechtliche Grundlage für die Feststellung der Notfallstufe findet sich zunächst in Art. 11 Abs. 1 lit. c) der sog. SOS‑Verordnung (Verordnung (EU) Nr. 2017/1938). Dort wird die nach der Frühwarnstufe und der Alarmstufe letzte Krisenstufe wie folgt definiert:
„Es liegt eine außergewöhnlich hohe Nachfrage nach Gas, eine erhebliche Störung der Gasversorgung oder eine andere erhebliche Verschlechterung der Versorgungslage vor und es wurden alle einschlägigen marktbasierten Maßnahmen umgesetzt, aber die Gasversorgung reicht nicht aus, um die noch verbleibende Gasnachfrage zu decken, so dass zusätzlich nicht‑marktbasierte Maßnahmen ergriffen werden müssen, um insbesondere die Gasversorgung der geschützten Kunden gem. Artikel 6 sicherzustellen.“
In der Bundesrepublik Deutschland hat das BMWK den in Art. 8 SOS‑Verordnung vorgesehenen Notfallplan erarbeitet, zuletzt mit Stand von September 2019.
Das Vorgehen des BMWK sowie der BNetzA bei und nach Feststellung der Notfallstufe ist im Gesetz zur Sicherung der Energieversorgung (EnSiG) geregelt. Dort ist unter anderem vorgesehen, dass durch Rechtsverordnung Vorschriften erlassen werden können über die Produktion, den Transport, die Lagerung, die Bevorratung, die Verteilung, die Abgabe, den Bezug, die Verwendung, die Einsparung, die Reduzierung des Verbrauchs sowie Höchstpreise von gasförmigen Energieträgern, um in der Notfallstufe die Deckung des lebenswichtigen Bedarfs an Energie zu sichern (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnSiG).
Anders als die Frühwarn- und Alarmstufe, die vom BMWK mittels Pressemitteilung bekannt gemacht werden können, muss die Notfallstufe durch Rechtsverordnung der Bundesregierung festgestellt werden, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedarf (§ 3 Abs. 3 Satz 2 EnSiG).
Im Notfallplan nennt das BMWK die folgenden Indikatoren, die einzeln oder gemeinsam zur Feststellung der Notfallstufe führen können.
Es zeigt sich somit, dass die marktbasierten Maßnahmen (§ 16 Abs. 1 EnWG) sowie die Notfallmaßnahmen (§ 16 Abs. 2 EnWG) der Netzbetreiber auch im Falle der Notfallstufe weiterhin eingesetzt werden können. Gleichzeitig aber kommt es in der dritten Stufe, und nur hier, zu hoheitlichen Maßnahmen, im ersten Schritt in Form von Rechtsverordnungen.
Diese Rechtsverordnungen werden grundsätzlich durch die Bundesregierung erlassen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EnSiG). Die Bundesregierung kann die Befugnis durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrats auf das BMWK sowie in Bezug auf die leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Erdgas auf die BNetzA übertragen, wenn die Energieversorgung i. S. d. § 1 Abs. 1 EnSiG gefährdet oder gestört ist (§ 3 Abs. 2 EnSiG). Wie diese Übertragungsmöglichkeit für den Fall, dass es in Deutschland zur Feststellung der Notfallstufe kommt, gehandhabt werden wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Nicht gänzlich unwahrscheinlich ist, dass in einer Art Kaskadierung nach der Rechtsverordnung, mit der die Bundesregierung die Notfallstufe feststellt, detaillierte Verordnungen über die Reihenfolge, nach der der Gasbezug zu kürzen oder gänzlich einzustellen ist, durch das BMWK und die BNetzA ergehen.
In diesem Zusammenhang ist eine wichtige Grundentscheidung mit Blick auf die sog. geschützten Kunden hervorzuheben. Der in Art. 6 Abs. 1 SOS‑Verordnung prinzipiell vorgeschriebene Schutz dieses Kundenkreises ist in § 53a EnWG im Einzelnen geregelt. Danach genießen drei Abnehmergruppen prioritären Schutz, d. h. ihnen gegenüber darf der Gasbezug erst reduziert werden, wenn alle anderen Potentiale ausgeschöpft wurden. Diese drei Kundengruppen sind
Spezielle Befugnisse im Falle der Notfallstufe sind außerdem in der aufgrund des EnSiG erlassenen Verordnung zur Sicherung der Gasversorgung in einer Versorgungskrise (GasSV) geregelt. Über die GasSV wird die BNetzA als sog. nationaler Lastverteiler tätig. Diese Tätigkeit der BNetzA ist grds. getrennt von den Regulierungsaufgaben zu betrachten, die der BNetzA durch § 54 EnWG übertragen sind. Vor allem der Kreis der potentiell Betroffenen, an die Maßnahmen der BNetzA in der Notfallstufe gerichtet werden können, deckt sich nicht mit den regulierungsunterworfenen Unternehmen.
Die BNetzA kann als nationaler Lastverteiler nach § 1 Abs. 1 GasSV Verfügungen erlassen,
Im ersten Fall, also gegenüber Unternehmen und Betrieben, können die Verfügungen die Gewinnung, Herstellung, den Bezug, die Bearbeitung, Verarbeitung, Umwandlung, Lagerung, Weiterleitung, Zuteilung, Abgabe, Verwendung, Einfuhr und Ausfuhr von Gas sowie die Lagerung, Abgabe und Verwendung von Ausgangsstoffen zur Gasherstellung betreffen. Im zweiten Fall, also gegenüber Verbrauchern, kann die BNetzA Verfügungen über die Zuteilung, den Bezug und die Verwendung von Gas sowie den Ausschluss vom Gasbezug treffen. Sowohl der Adressatenkreis als auch die Bandbreite der in der Notfallstufe möglichen Maßnahmen ist daher außerordentlich weit gezogen.
Die BNetzA kann außerdem als nationaler Lastverteiler gem. § 1 Abs. 2 GasSV die Gasversorgungsunternehmen sowie Verbraucher durch Verfügung verpflichten, bestehende Verträge zu ändern oder neue Verträge abzuschließen, soweit das angestrebte Verhalten durch Anwendung bestehender Verträge nicht oder nicht rechtzeitig verwirklicht werden kann. Besonders einschneidend ist in diesem Zusammenhang, dass die BNetzA in der Verfügung für eine Leistung das übliche Entgelt oder, in Ermangelung eines solchen, ein angemessenes Entgelt festsetzen kann (§ 1 Abs. 2 Satz 2 GasSV). Die Bundesnetzagentur hat daher sehr weitreichende privatrechtsgestaltende Befugnisse.
Mit Blick darauf war es geboten, dass der Gesetzgeber den ohnehin zu beachtenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in § 1 Abs. 3 GasSV ausdrücklich konkretisiert. Danach darf die BNetzA als nationaler Lastverteiler Verfügungen nur erlassen, soweit diese unbedingt erforderlich sind, um eine Gefährdung oder Störung der lebenswichtigen Versorgung mit Gas zu beheben oder zu mindern. Sie hat dabei bestehende Verträge und die Zweckbestimmung von Eigenanlagen möglichst zu berücksichtigen.
Außerdem ist vorgesehen, dass die Verfügungen zu befristen sind, soweit sich ihre Geltungsdauer nicht schon aus ihrem Inhalt ergibt (§ 1 Abs. 5 Satz 1 GasSV).
In diesem Zusammenhang ist der Hinweis geboten, dass demnächst das „Gesetz zur Bereithaltung von Ersatzkraftwerken zur Reduzierung des Gasverbrauchs im Stromsektor im Fall einer drohenden Gasmangellage“ beraten und verabschiedet werden soll. Im Wesentlichen soll mit diesem Gesetz nach § 50 EnWG, der die Vorratshaltung zur Sicherung der Energieversorgung regelt, eine Reihe von Bestimmungen eingefügt werden, die ermöglichen, für die Stromerzeugung andere als Gaskraftwerke heranzuziehen. Nach gegenwärtigem Entwurfsstand knüpfen die Bestimmungen an die Feststellung der Notfallstufe an und werden damit in diesem Fall ihrerseits zu beachten sein.
Außerdem gibt es derzeit Überlegungen des Gesetzgebers, das im EnSiG geregelte Recht der Energieversorgungsunternehmen, gestiegene Bezugskosten an ihre Kunden weiter zu geben, zu modifizieren. Ziel ist es, die dadurch entstehenden Mehrbelastungen für die Kunden bundesweit und gleichmäßig zu verteilen. Genaueres wird sich erst am Ende des Gesetzgebungsprozesses sagen lassen.
Da die Maßnahmen der BNetzA auf der Grundlage des EnSiG wie erwähnt nicht in die klassische Regulierungstätigkeit eingeordnet sind, musste ein Verweis in die Verfahrensvorschriften des EnWG vorgenommen werden. So ist es für das gerichtliche Verfahren in § 5 Satz 2 EnSiG geschehen: Danach sind für das gerichtliche Verfahren die Bestimmungen in den Abschnitten 2 bis 4 des Teils 8 des EnWG mit Ausnahme der §§ 91 und 93 EnWG anwendbar. Gegen die Verfügungen ist daher im Wege der Beschwerde beim OLG Düsseldorf bzw., in der Hauptsache, der Rechtsbeschwerde beim BGH vorzugehen (§ 75 Abs 1 bzw. § 86 Abs. 1 EnWG). In der Sache bedeutet dies außerdem, dass kein behördliches Widerspruchsverfahren zu durchlaufen ist und die Beschwerde keine aufschiebende Wirkung hat (§ 76 Abs. 1 EnWG).
Der Ausschluss der Suspensivwirkung hat zur Folge, dass die von den Maßnahmen der BNetzA Betroffenen intensiv prüfen sollten, ob sie Eilrechtsschutz gegen die Verfügungen der BNetzA einlegen. Der richtige Rechtsbehelf dafür ist das Verfahren zur Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 77 Abs. 3 Satz 4 EnWG.
Der Erfolg der Anordnungsverfahren hängt wie üblich davon ab, ob entweder die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten oder die originäre Interessenabwägung zu dem Ergebnis führt, dass dem öffentlichen Interesse am Vollzug Nachrang gegenüber den Interessen des betroffenen Einzelnen zukommt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die originäre Interessenabwägung in dieser Materie höheres Gewicht erhält als in üblichen verwaltungsgerichtlichen Streitigkeiten, bei denen der gesetzliche Sofortvollzug gilt. Denn die dargestellte materielle Bandbreite der Befugnisse der BNetzA kann durchaus zur Existenzgefährdung beispielsweise eines betroffenen Unternehmens führen. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug müsste in diesem Fall besonders schwer wiegen. Anderenfalls wäre die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anzuordnen.
Betroffene haben aber nicht nur die Möglichkeit, gegen die Verfügungen der BNetzA gerichtlich vorzugehen. Vielmehr besteht nach § 11 EnSiG ein Entschädigungsanspruch, sobald eine Maßnahme – oder eine Rechtsverordnung – eine Enteignung darstellt. Die Entschädigung ist in aller Regel von der Bundesrepublik Deutschland zu leisten (§ 11 Abs. 2 Satz 2 EnSiG), weil und wenn ein konkreter Begünstigter nicht existiert. Entschädigung ist kein Schadenersatz, sie gewährt nur angemessenen Wertausgleich für den enteigneten Wert selbst. Auch wenn also eine Kürzung oder ein Ausschluss aus der Gasversorgung als Enteignung anzusehen sein sollte, was keineswegs immer der Fall wäre, würde eine Entschädigung Folgekosten, Gewinnausfälle etc. nicht kompensieren, sondern nur den Wert eines Eigentumsentzugs kompensieren.
Stellen die Maßnahmen – oder die Rechtsverordnungen – keine Enteignung dar, so sieht § 12 EnSiG in Situationen, die die wirtschaftliche Existenz gefährden, einen Härteausgleich vor. Dem Betroffenen, dem ein Vermögensnachteil zugefügt wurde, ist eine Entschädigung in Geld zu gewähren, soweit seine wirtschaftliche Existenz durch unabwendbare Schäden gefährdet oder vernichtet ist oder die Entschädigung zur Abwendung oder zum Ausgleich ähnlicher unbilliger Härten geboten ist. Auch zur Leistung dieser Entschädigung ist der Bund verpflichtet (§ 12 Abs. 2 EnSiG).
Auch ein solcher Entschädigungsanspruch gewährt keine Kompensation sämtlicher wirtschaftlicher Nachteile und Folgen, sondern wäre nur eine Härtefallleistung. Hierneben ist die politische Diskussion über Sonderhilfen des Staats eröffnet, über die der Gesetzgeber aber zu entscheiden hat.
Derartige Entschädigungsansprüche sind nicht zu verwechseln mit Amtshaftungsansprüchen, die für amtspflichtwidriges staatliches Handeln im Einzelfall in Frage kommen können, in einer Situation wie der von staatlicher Bewirtschaftung im Zweifel aber hohen Hürden ausgesetzt wären.
Betroffene wären hier in jedem Falle zunächst gehalten, Rechtsschutz gegen die beschränkenden Maßnahmen selbst zu suchen, soweit sie diese für rechtswidrig halten.
Der Streit um Entschädigungen und Amtshaftungsansprüche wäre vor den ordentlichen Gerichten auszutragen.
Dr. Stephan Gerstner
Partner
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