Sehr geehrte Damen und Herren,
der BGH hat Wegweisendes entschieden. In einer Entscheidung sowohl zum Bau- wie zum Architektenrecht hat er die Schadensberechnung bei Mängeln auf den Kopf gestellt. Auch bzgl. ungewöhnlich niedriger Angebote hat der BGH sich im Vergaberecht gegen die bislang herrschende Meinung gestellt. Diese Entscheidungen stellen wir vor.
Ihr Team Baurecht
1. Bei Nichtbeseitigung eines Mangels kann im Rahmen eines Schadensersatzanspruches statt der Leistung (§ 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB) nicht mehr Ersatz der fiktiven Mängelbeseitigungskosten verlangt werden (Aufgabe der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung).
2. Stattdessen kommen grundsätzlich zwei Wege der Schadensermittlung in Betracht:
- Entweder wird im Wege einer Vermögensbilanz die Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der Sache ohne Mangel und dem tatsächlichen Wert der Sache mit Mangel ermittelt.
- Alternativ kann in Anlehnung an die Grundsätze der werkvertraglichen Minderung der Schaden auch in der Weise bemessen werden, dass ausgehend von der vereinbarten Vergütung der Minderwert des Werks wegen des (nicht beseitigten) Mangels geschätzt wird. Maßgebend ist dabei die durch den Mangel eingetretene Störung des Äquivalenzverhältnisses.
3. Der Besteller, der Schadensersatz statt der Leistung in Form des kleinen Schadensersatzes geltend gemacht hat, kann zum Vorschussanspruch (§ 634 Nr. 2, § 637 BGB) zurückkehren.
4. Die Grundsätze zur Bemessung des Schadensersatzes bei Nichtbeseitigung des Mangels gelten auch beim Architektenvertrag.
5. Sofern der Mangel beseitigt werden soll, hat der Besteller wegen Planungs- oder Überwachungsfehlern, die sich im Bauwerk bereits verwirklicht haben, einen Schadensersatzanspruch gegen den Architekten auf Vorfinanzierung in Form der vorherigen Zahlung eines zweckgebundenen und abzurechnenden Betrages (= vorschussähnlicher Anspruch).
6. Die Berechnung einer Minderung (§ 638 BGB) kann nicht mehr durch den schlichten Abzug fiktiver Mängelbeseitigungskosten erfolgen.
Leitsätze des Autors nach BGH, Urt. v. 22.02.2018 – VII ZR 26/17
Sachverhalt
Die Bestellerin begehrt von dem ausführenden Unternehmen sowie dem mit der Planung und Überwachung der Arbeiten beauftragten Architekten Schadensersatz wegen Mängeln an Natursteinarbeiten. Insoweit nahm sie das ausführende Unternehmen zunächst auf Vorschuss und nach Veräußerung des Objektes im Rahmen des Berufungsverfahrens auf Schadensersatz in Form fiktiver Mängelbeseitigungskosten in Anspruch. Der Architekt wurde von der Bestellerin ebenfalls auf Schadensersatz hinsichtlich fiktiver Mängelbeseitigungskosten in Anspruch genommen. Das Berufungsgericht erkannte derart berechnete Ansprüche entsprechend der bisherigen ständigen Rechtsprechung zu.
Entscheidung des BGH
Dem folgt der für das Baurecht zuständige VII. Zivilsenat nicht und ändert damit sogleich seine bisherige Rechtsprechung maßgeblich ab.
Nach der bisherigen Rechtsprechung standen dem Besteller, der das Werk behält und einen Mangel nicht beseitigen lässt, zwei Möglichkeiten zur Schadensermittlung zur Verfügung. Der Schadensersatzanspruch konnte entweder nach dem tatsächlichen mangelbedingten Minderwert (hypothetischer Wert der Sache ohne Mangel abzüglich tatsächlicher Wert der Sache mit Mangel) oder nach den Kosten berechnet werden, die für eine ordnungsgemäße Mängelbeseitigung erforderlich sind. Dieser Anspruch auf Zahlung der fiktiven Mängelbeseitigungskosten bestand grundsätzlich bis zur Grenze der Unverhältnismäßigkeit (§ 251 Abs. 2 Satz 1 BGB) in Höhe der zur Mängelbeseitigung erforderlichen Netto‑Beträge.
Hieran hält der BGH jedenfalls für nach Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes abgeschlossene Werkverträge für BGB- und VOB/B‑Verträge nicht mehr fest. Die tragende Erwägung ist (entgegen der früheren Ansicht), dass der Mangel selbst noch keinen Vermögensschaden in Höhe fiktiver Mangelbeseitigungskosten darstellt. Denn das Vermögen des Bestellers ist im Vergleich zu einer mangelfreien Leistung tatsächlich nicht um einen Betrag in Höhe solcher fiktiver Aufwendungen vermindert. Erst wenn der Besteller den Mangel beseitigen lässt und hierfür tatsächliche Kosten entstanden sind, entsteht ein Vermögensschaden in eben dieser Höhe. Der Mangel selbst wird dagegen zunächst nur als ein Leistungsdefizit mit der Folge einer Störung des vertraglichen Äquivalenzverhältnisses gesehen. Dieses Leistungsdefizit ist schadensrechtlich zu bewerten und wird durch eine Schadensbemessung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten nicht zutreffend abgebildet. Es führt nach den Erwägungen des BGH vielmehr häufig zu einer Überkompensation und verstößt gegen das schadensrechtliche Bereicherungsverbot, weshalb der BGH die im 2. Leitsatz dargestellten Wege zu einer Schadensbemessung – die grundsätzlich auch im Architektenvertrag gelten – vorgibt. Der zweite Weg (Alternative zur Verkehrswertdifferenz über Schätzung des Minderwertes anhand der Vergütung des Unternehmers) ist dabei komplett neu.
Weiterhin urteilt der VII. Senat, dass der Wechsel von einer Schadensberechnungsart zu der anderen und insbesondere die Rückkehr zum Vorschussanspruch trotz des bereits geltend gemachten kleinen Schadensersatzes grundsätzlich möglich ist und unter erleichterten prozessualen Voraussetzungen steht. Auch hier wird Neuland betreten.
Schließlich – auch dies ist ein Novum – erkennt der Senat im Architektenvertrag einen vorschussähnlichen Schadensersatzanspruch gegen den Planer zu.
Einzelheiten
a. Mängelbeseitigung erfolgt
Lässt der Besteller die Mängel beseitigen, kann er die von ihm aufgewendeten Mängelbeseitigungskosten als Schadensersatz statt der Leistung (§ 634 Nr. 4, §§ 280, 281 BGB) ersetzt verlangen. Dies entspricht der bisherigen Auffassung und wurde von dem VII. Zivilsenat nochmals klargestellt. Denn insoweit entsteht dem Besteller tatsächlich ein Vermögensschaden. Der BGH betont, dass der Besteller sich auf den Ersatz eines geringeren Minderwerts in diesem Fall – vorbehaltlich eine Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen – nicht verweisen lassen muss. Vor Ausgleich der Kosten kann der Besteller zudem die Befreiung von den zur Mängelbeseitigung eingegangenen Verbindlichkeiten verlangen.
b. Mängelbeseitigung nicht erfolgt
Bei nicht durchgeführter Mängelbeseitigung stehen dem Besteller, der das mangelbehaftete Werk behält, zukünftig zwei Möglichkeiten der Bemessung des (kleinen) Schadensersatzes statt der Leistung zur Verfügung.
Zunächst hat der Besteller (wie bisher) die Möglichkeit, den Schaden im Wege der Differenzhypothese („Vermögensbilanz“) zu berechnen. Dabei ist die Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der im Eigentum des Bestellers stehenden Sache ohne Mangel und dem tatsächlichen Wert der Sache mit Mangel zu ermitteln, mithin also eine Saldierung der Vermögenslagen vorzunehmen. Entscheidend ist der objektiviert festzustellende Wertunterschied, wobei verfahrensrechtlich für die Schadensbemessung der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgebend ist.
Alternativ soll dem Besteller in Anlehnung an die Grundsätze zur Minderung (§§ 634 Nr. 3, 638 BGB) die vom Bundesgerichtshof gegenüber einer Vermögensbilanz u. U. als „einfacher“ angesehene Möglichkeit zustehen, ausgehend von der für das Werk vereinbarten Vergütung einen Minderwert wegen des nicht beseitigten Mangels anzusetzen. Der mangelbedingte Minderwert des Werkes sei danach ausgehend von der vereinbarten Vergütung als Maximalwert nach § 287 ZPO gerichtlich zu schätzen, und zwar anhand der Vergütungsanteile, die auf die mangelhafte Leistung entfallen. Ergeben sich diese nicht aus dem Vertrag, soll auch insoweit eine Schätzung zulässig sein. In diesem Zusammenhang führt der VII. Zivilsenat weiter aus, dass auch für die Berechnung einer Minderung (§ 638 BGB) die gleichen Grundsätze gelten und auch hier die Bestimmung eines Minderungsbetrags durch den schlichten Abzug fiktiver Mängelbeseitigungskosten nicht (mehr) erfolgen kann.
c. Rückkehr zum Vorschussanspruch
Nach der herrschenden Meinung im Bauvertragsrecht wird aus §§ 637 Abs. 1, 281 Abs. 4 BGB hergeleitet, dass mit dem Verlangen von Schadensersatz statt der Leistung der Nacherfüllungsanspruch und damit auch das Ersatzvornahmerecht und der Vorschussanspruch erlöschen, da diese Rechte einen im Zeitpunkt ihrer Geltendmachung bestehenden Nacherfüllungsanspruch voraussetzen.
Dieser Auffassung folgt der VII. Zivilsenat nicht, sondern gewährt dem Besteller nunmehr das Recht, auch nach Geltendmachung von Schadensersatz statt der Leistung auf den Vorschussanspruch zurückzukehren. Zwar scheidet der Nacherfüllungsanspruch selbst nach Wahl des kleinen Schadensersatzes aus (§ 281 Abs. 4 BGB). Allerdings ergebe sich aus der gesetzlichen Begründung zu § 637 BGB kein gesetzgeberischer Wille, dies auch auf den Vorschussanspruch zu erstecken.
Damit ebnet der BGH insbesondere für alle anhängigen Verfahren den Weg, auch nach Geltendmachung von fiktiven Mängelbeseitigungskosten wieder auf den Vorschussanspruch zurückzukommen. Verfahrensrechtlich wird ein derartiger Wechsel über die Vorschrift des § 264 Nr. 3 ZPO abgesichert.
a. Mängelbeseitigung erfolgt
Ist das Bauwerk aufgrund von Planungs- oder Überwachungsfehlern des Architekten mangelhaft errichtet worden, steht dem Besteller ein Schadensersatzanspruch neben der Leistung (§ 634 Nr. 4, § 280 Abs. 1 BGB) zu. Lässt der Besteller den Mangel des Bauwerks beseitigen, so sind die hierfür entstandenen Aufwendungen (wie bisher) als Schadensersatz zu ersetzen. Vor Ausgleich der Kosten kann der Besteller zudem Befreiung von den eingegangenen Verbindlichkeiten zur Mängelbeseitigung (auch) vom Architekten verlangen.
b. Mängelbeseitigung nicht erfolgt
Dagegen scheidet bei Nichtbeseitigung des Mangels nach dem VII. Zivilsenat auch im Verhältnis zum Architekten ein Anspruch auf Ersatz der fiktiven Mängelbeseitigungskosten nunmehr aus. Vielmehr sind die Erwägungen betreffend der Schadensbemessung beim ausführenden Unternehmen entsprechend heranzuziehen. Die Schadensberechnung kann daher im Wege einer Vermögensbilanz nach dem tatsächlichen Minderwert des Bauwerks im Vergleich zu dem hypothetischen Wert bei mangelfreier Architektenleistung bemessen werden. Alternativ kann der Schadensersatzanspruch – ausgehend von der mit dem ausführenden Unternehmen vereinbarten Vergütung – anhand des mangelbedingten Minderwerts des Bauwerks ermittelt/geschätzt werden. Die obigen Grundsätze gelten somit entsprechend.
c. Schadensersatzanspruch auf Vorfinanzierung eines zweckgebundenen und abzurechnenden Betrages zur Mängelbeseitigung
Weiterhin urteilt der VII. Zivilsenat für Architektenverträge ein echtes Novum aus. Ein Vorschussanspruch gegen den Architekten aus § 637 BGB wegen bereits im Bauwerk verwirklichter Planungs- oder Überwachungsmängel besteht nicht. Entschließt sich der Besteller, die Mängel beseitigen zu lassen, kommt ihm insoweit ein Vorschussanspruch gegenüber dem ausführenden Unternehmen zu.
Dieser Vorschussanspruch dient dazu, dem Besteller Nachteile und Risiken einer Vorfinanzierung einer Mängelbeseitigung zu nehmen. Diese Wertung ist nach dem BGH auch für Planungs- oder Überwachungsfehler des Architekten, welche sich im Bauwerk bereits verwirklicht haben, zu übertragen. Dementsprechend wird dem Besteller in Form eines Schadensersatzanspruches gegen den Architekten nunmehr ein Zahlungsanspruch auf vorherige Zahlung eines zur Mängelbeseitigung zweckgebundenen und abzurechnenden Betrages zuerkannt. Dies begründet also einen vorschussähnlichen Anspruch gegenüber dem Planer.
Die dem Urteil zugrundeliegende Fallgestaltung wies die Besonderheit auf, dass die Bestellerin das mangelbehaftete Objekt mittlerweile weiterveräußert hatte. Insoweit stellte der VII. Zivilsenat fest, dass die Schadensbemessung nach dem konkreten Mindererlös aus dem Verkaufsgeschäft zu bemessen ist, welcher typischerweise anhand der Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der Sache ohne Mangel und dem gezahlten Kaufpreis ermittelt werden könne, da der Kaufpreis den tatsächlichen Wert der Sache regelmäßig indiziere. Zugleich finden sich in der Entscheidung die Grundsätze, was gilt, wenn in derartigen Fallgestaltungen der Veräußerungserlös über oder unter dem tatsächlichen Wert der mangelbehafteten Sache liegt, also der Besteller ein günstiges oder schlechtes Geschäft abgeschlossen hat.
Praxishinweis
Dieses Grundsatzurteil des BGH beendet eine Ära jahrzehntelanger Schadensberechnungen und ist von enormer praktischer Bedeutung, gerade auch hinsichtlich der weiteren richtungsweisenden Entscheidungsinhalte zu den Mängelrechten.
Die neuen dogmatischen Grundsätze zur Schadensbemessung betreffen eine Vielzahl anhängiger Verfahren, die nun unter der vorgegebenen Erleichterung des § 264 ZPO umgestellt werden müssen. Der BGH stellt das Dispositions- sowie Leistungsinteresse des Bestellers bei der Schadensbemessung maßgeblich in den Vordergrund und trifft eine hieran orientierte und hiervon abhängige Differenzierung, in der insbesondere der Gedanke der Überkompensation maßgebliche Berücksichtigung findet. Diese Grundsätze waren bereits in jüngeren Urteilen des BGH und in Veröffentlichungen durch Senatsmitglieder vorgezeichnet (vgl. Halfmeier BauR 2013, 320 ff.).
Nicht verkannt werden darf allerdings, dass eine objektive Verkehrswertminderung in der Praxis häufig wirtschaftlich den (fiktiven) Mängelbeseitigungskosten gleichen wird. Eine Ausnahme dürften die Fälle nur optischer oder nicht funktionsrelevanter Mängel darstellen, welche einen hohen Beseitigungsaufwand erfordern. Ob der vom BGH alternativ zur Vermögensbilanz zur Verfügung gestellte Weg, unabhängig von einer (häufig aufwendigen und durch Sachverständige vorzunehmenden) objektiven Marktwertberechnung, den Minderwert anhand der auf die mangelhafte Leistung entfallenden Vergütungsanteile zu schätzen, tatsächlich einen einfacheren und praktikableren Weg darstellt, erscheint fraglich. Denn von einfachen Fällen beim Einheitspreisvertrag abgesehen, müssen die betreffenden Werklohnanteile zunächst identifiziert und abgegrenzt und sodann die hierauf entfallende am Leistungsinteresse des Bestellers zu messende mangelbedingte Äquivalenzstörung wertmäßig bewertet werden. Dies kann zu Unsicherheiten führen und zwar vor allem dann, wenn der entsprechende Mangel nicht vollständig den kompletten zugehörigen Vergütungsanteil erfasst. Schätzungen führen hier zwar zu Erleichterungen, zugleich aber auch zu Bewertungsunsicherheiten.
Hinzuweisen bleibt schließlich darauf, dass die dargestellten Grundsätze explizit nur das Werksvertragsrecht betreffen und der VII. Zivilsenat keine Veranlassung sah, wegen anderslautender Entscheidungen des V. und VIII. Zivilsenats im Kaufrecht die Sache dem großen Senat vorzulegen. Auch hat die Entscheidung keine Auswirkung auf die Beschädigung einer Sache (§ 249 Abs. 2 BGB) und damit z. B. auf die typischen Verkehrsunfallkonstellationen.
Dr. Lars Klein
Partner
Rechtsanwalt
(lars.klein@redeker.de)
Der richtige Umgang mit ungewöhnlich niedrigen Angeboten ist ein vergaberechtlicher „Klassiker“ und „Dauerbrenner“, zu dem in jüngerer Zeit einige interessante Entscheidungen ergangen sind.
Neu befeuert wurde das Thema vor allem durch den BGH, Beschluss vom 31.01.2017, X ZB 10/16, wonach in dem Fall, dass ein Angebotspreis aufgrund des signifikanten Abstands zum nächstgünstigen Gebot oder ähnlicher Anhaltspunkte, wie etwa der augenfälligen Abweichung von preislichen Erfahrungswerten aus anderen Beschaffungsvorgängen, ungewöhnlich niedrig erscheint, die Mitbewerber verlangen können, dass die Vergabestelle in die vorgesehene nähere Prüfung der Preisbildung eintritt. Damit hat der BGH – entgegen der bis dahin ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur – einen uneingeschränkten Drittschutz angenommen und damit die Möglichkeit für eine volle Überprüfbarkeit von Konkurrenzangeboten durch einen Bieter eröffnet.
Von der nunmehr einklagbaren Überprüfung zu unterscheiden ist die Frage, wann ein ungewöhnlich niedrig erscheinendes Angebot vom Vergabeverfahren auszuschließen ist. Zu den insoweit geltenden Grundsätzen hat sich jüngst der EuGH, Urteil vom 19.10.2017, Rs. C‑198/16, verhalten. Danach ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, erstens die zweifelhaften Angebote zu identifizieren, zweitens den betroffenen Bietern zu ermöglichen, ihre Seriosität zu beweisen, indem er von ihnen Aufklärung verlangt, wo er dies für angezeigt hält, drittens die Stichhaltigkeit der von den Betroffenen eingereichten Erklärungen zu beurteilen und viertens über die Zulassung oder Ablehnung dieser Angebote zu entscheiden. Mangels einer Definition des Begriffs ungewöhnlich niedriges Angebot oder feststehenden Regeln zur Identifizierung eines solchen Angebots, ist es Sache des öffentlichen Auftraggebers, die für die Identifizierung der ungewöhnlich niedrigen Angebote verwendete Methode festzulegen, vorausgesetzt, dass diese Methode sachlich und nicht diskriminierend ist. Es spricht – so der EuGH – insoweit auch nichts dagegen, dass der öffentliche Auftraggeber die Angebote mit dem veranschlagten Budget vergleicht und eines davon als auf den ersten Blick ungewöhnlich niedrig identifiziert, wenn die Höhe dieses Angebots erheblich unter diesem Budget liegt. Allerdings könne eine Simulation eines konkurrierenden Bieters, die darin besteht, die im Angebot vorgeschlagenen Preise anhand der wirtschaftlichen Bezugsparameter im Einzelnen zu überprüfen, noch nicht den Nachweis erbringen, warum der öffentliche Auftraggeber im Vorhinein an der Seriosität dieses Angebots hätte zweifeln sollen.
Im Kern bedeutet dies, dass der Zuschlag auch auf ein Angebot mit einem (sehr) niedrigen Preis erteilt werden darf, sofern der öffentliche Auftraggeber eine sachlich fundierte, vertretbare Prognose trifft, dass der Bieter die Leistung zuverlässig und vertragsgerecht erbringen wird und konkrete Belege für ein wettbewerbsbeschränkendes oder unlauteres Unterangebot fehlen. So kann ein Unterkostenangebot beispielsweise durch besonderes Interesse am Erhalt des Auftrags gerechtfertigt sein. Ein solches Interesse kann insbesondere darin liegen, dass ein Bieter wegen der Aufhebung einer vergleichbaren Ausschreibung ohnehin bereitstehende und nicht anderweitig nutzbare Kapazitäten auslasten will (vgl. VK Bund, Beschluss vom 22.11.2017, VK 1‑129/17). Umgekehrt ist ein Ausschluss zulässig, wenn die Vergabestelle nach der Prüfung die geringe Höhe des angebotenen Preises oder der angebotenen Kosten nicht zufriedenstellend aufklären kann (vgl. VK Bund, Beschluss vom 22.11.2017, VK 1‑129/17; VK Nordbayern, Beschluss vom 14.12.2017, RMF‑SG21‑3194‑02‑14).
Zu beachten ist in diesem Zusammenhang schließlich auch die Kalkulationsfreiheit der Bieter. Dieser können durch den öffentlichen Auftraggeber jedoch Grenzen in Form von verbindlichen Kalkulationsvorgaben gesetzt werden. Werden diese vom Bieter nicht beachtet, liegt ein zwingender Ausschlussgrund vor (vgl. OLG Frankfurt/Main, Beschluss vom 11.10.2016, 11 Verg 13/16).
Dr. Matthias Ganske
Partner
Rechtsanwalt
(ganske@redeker.de)
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