Die Erfassung des Umfangs der geleisteten Arbeit ist unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten relevant, vor allem zum Gesundheitsschutz und bei der Geltendmachung von Überstundenvergütung. Nach allgemeiner Ansicht bestand in Deutschland bisher nur eine eingeschränkte Pflicht des Arbeitgebers zur Erfassung der Arbeitszeiten. Nach § 16 Abs. 2 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) ist der Arbeitgeber lediglich verpflichtet, die über die werktägliche Arbeitszeit des § 3 Satz 1 ArbZG hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer (Mehrarbeit) aufzuzeichnen. Umfassendere Aufzeichnungspflichten, wie sie z. B. § 17 Abs. 1 Mindestlohngesetz (MiLoG) für geringfügig Beschäftigte vorsieht, sind im nationalen Recht nur punktuell normiert.
Aus diesem Grund sorgt eine Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 13.9.2022 (PM 35/22) für Unsicherheit bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Auch in der Presse wird über ein „Zurück zur Stechuhr“ (tagesschau.de vom 16.9.2020,) und das „Ende der Vertrauensarbeitszeit“ (Kölnische Rundschau vom 13.9.2022,) spekuliert. Denn das Modell der Vertrauensarbeitszeit versucht ein System zur Arbeitszeiterfassung gerade zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund ist ein genauerer Blick auf den erwähnten Beschluss des BAG zu werfen. Außerdem sollen zwei ebenfalls neuere Entscheidungen des BAG zum Anlass genommen werden, die Auswirkung der Erforderlichkeit von Zeiterfassungssystemen auf die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess zu hinterfragen.
Nach der Pressemitteilung vom 13.9.2022 sind Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) verpflichtet, „ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann“. Nach dieser Norm hat der Arbeitgeber die erforderlichen Maßnahmen für die Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer zu treffen und hierzu „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“.
Auch wenn die Vorschrift ein System zur Arbeitszeiterfassung nicht ausdrücklich erwähnt, sind Arbeitgeber bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG nach Ansicht des BAG verpflichtet, die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer zu erfassen. Damit gilt nach Auffassung des BAG die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung bereits aktuell und bedarf es hierzu keiner gesetzgeberischen Ergänzung mehr.
Die Aussage des BAG kam in diesem Kontext für viele überraschend, denn die Beteiligten stritten in dem Verfahren nicht über Normen des Arbeitszeitgesetzes oder des Arbeitsschutzgesetzes. Vielmehr ging es um eine Frage des Betriebsverfassungsrechts: Kann ein Betriebsrat die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb mithilfe einer Einigungsstelle erzwingen?
Dem lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Der antragstellende Betriebsrat und die Arbeitgeberinnen hatten über eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeiterfassung verhandelt, eine Einigung kam jedoch nicht zustande. Auf Antrag des Betriebsrats setzte das Arbeitsgericht eine Einigungsstelle zum Thema „Abschluss einer Betriebsvereinbarung zur Einführung und Anwendung einer elektronischen Zeiterfassung“ ein. Nachdem die Arbeitgeberinnen deren Zuständigkeit gerügt hatten, leitete der Betriebsrat ein Beschlussverfahren ein und begehrte die Feststellung, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) zustehe.
Dies hat das BAG (im Gegensatz zu der Vorinstanz: LAG Hamm v. 27.7.2021 – 7 TaBV 79/20) abgelehnt: Der Betriebsrat könne die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen. Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt sei. Die gesetzliche Pflicht der Arbeitgeberinnen zur Arbeitszeiterfassung ergebe sich jedoch bereits aus der unionsrechtskonformen Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Damit hat der Arbeitgeber eine Pyrrhussieg errungen, anstelle des Initiativrechts des Arbeitgebers wurde die allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung festgestellt.
Auch wenn die Einbettung der Entscheidung in eine Fragestellung des Betriebsverfassungsrechts überrascht, so verwundert der Inhalt mit Blick auf die so genannte Stechuhr‑Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) aus dem Jahr 2019 weniger (vgl. EuGH v. 14.5.2019 – C‑55/19, CCOO gg. Deutsche Bank SAE). Damals hatte der EuGH entschieden, dass die Mitgliedstaaten den Arbeitgeber zu einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeit Erfassung verpflichten müssen. Nur so lasse sich überprüfen, ob die zulässigen Arbeitszeiten auch eingehalten würden. Dabei hatte sich der EuGH neben der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auch auf Art. 31 Abs. 2 EU‑Grundrechtecharta (EuGRCh) gestützt. Letzteres löste eine Diskussion über die möglicherweise unmittelbare Wirkung des Art. 31 EuGRCh und damit einhergehende Verpflichtung der Arbeitgeber aus.
Schon im Jahr 2019 wurde deshalb von den einen beklagt, dass der EuGH seine Kompetenzen überschreite und sich mit der Auslegung des Art. 31 EuGRCh zum Gesetzgeber aufschwinge. Andere waren hingegen der Meinung, das Europarecht enthalte keine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung, sondern allein eine Pflicht, dem Arbeitnehmer die Aufzeichnung möglich zu machen, wenn dieser dies wolle. Die Politik bewegte sich zur Frage der nationalen Normierung nur langsam. Zwar enthielt der Koalitionsvertrag die Aussage, dass das Arbeitszeitrecht unter Beachtung der Rechtsprechung des EuGH anzupassen sei. Ein Gesetzesentwurf existiert jedoch noch nicht. Nunmehr hat das BAG den Gesetzgeber überholt und klargestellt, dass der Arbeitgeber bereits verpflichtet ist, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern (tatsächlich und vollständig) geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann.
Diese Pflicht geht nach unserer Auffassung jedoch nicht zwingend mit dem Ende der Vertrauensarbeitszeit einher. Vielmehr waren auch bisher bei Erledigung der vereinbarten Arbeitsaufgaben die zulässigen Höchstarbeitszeiten zu beachten. Es spricht vieles dafür, dass der Arbeitgeber auch zukünftig den Arbeitnehmern die freie Arbeitseinteilung während der Arbeitszeit ermöglichen und diesem die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung übertragen kann. Da das BAG bislang nur eine Pressemittelung veröffentlicht, bleibt jedoch die Veröffentlichung des Urteilstextes abzuwarten.
Der 5. Senat des BAG hat in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung aus Mai dieses Jahres klargestellt, dass die Rechtsprechung des EuGH keine Veranlassung gebe, von den bestehenden Grundsätzen zur Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess abzurücken.
Unionsrechtliche Regelungen, die allein den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bezwecken, hätten keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislastverteilung in einem Vergütungsrechtsstreit, der sich rein nach nationalem Prozessrecht und materiellem Recht gestaltet. Selbst wenn man daher davon ausginge, dass sich aus Art. 31 Abs. 2 EuGRCh unmittelbar die Pflicht des Arbeitgebers zur Arbeitszeitaufzeichnung ergebe (nunmehr aufgrund der Ansicht des 1. Senats des BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG), hätte diese unionsrechtliche Verpflichtung keine Auswirkungen auf das System der abgestuften Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess.
Danach muss der Arbeitnehmer auch künftig sowohl zum Vorliegen von Überstunden als auch zu deren Veranlassung durch den Arbeitgeber vortragen. Hintergrund ist, dass der Arbeitnehmer seinen Arbeitsumfang über die vertraglichen Vereinbarungen hinaus nicht selbst erhöhen kann. Der Arbeitgeber muss sich die Leistung und Vergütung von Überstunden nicht aufdrängen lassen, der Arbeitnehmer kann nicht durch überobligatorische Mehrarbeit seinen Vergütungsanspruch selbst bestimmen (vgl. auch BAG v. 10.4.2013 – 5 AZR 122/12).
Entscheidet sich der Arbeitnehmer aus freien Stücken ohne arbeitgeberseitige Veranlassung zu einer überobligatorischen Leistung, entspricht dies nicht dem vertraglich Vereinbarten und dem Konzept des Arbeitgebers, der den Betriebsablauf gestaltet. Darum kann der Arbeitnehmer für eine solche Leistung keine zusätzliche Vergütung erwarten (vgl. auch BAG v. 15.11.2018 – 6 AZR 385/17).
Mit einem weiteren Urteil vom selben Tag hat der 5. Senat entschieden, dass die Darlegung einer Überstundenleistung und die Darlegung, dass die Überstunden arbeitgeberseitig veranlasst waren, nicht stets strikt voneinander getrennt betrachtet werden könnten. Sie könnten sich im Einzelfall auch „überlappen“ und gegenseitig bedingen.
Soweit der Arbeitnehmer die Leistung von Überstunden konkret vorgetragen und die in den betrieblichen Verhältnissen liegenden Ursachen des Überschreitens der Normalarbeitszeit im Einzelnen geschildert hat, macht er damit regelmäßig zugleich geltend, dass die Überstundenleistung zur Erledigung der ihm obliegenden Arbeiten erforderlich und damit zumindest konkludent angeordnet war. Es ist dann Sache des Arbeitgebers, konkret darzulegen, aus welchen Gründen die vom Arbeitnehmer vorgebrachten Ursachen für die Überstundenleistung nicht vorgelegen hätten oder aus welchen Gründen der Arbeitnehmer gleichwohl die ihm obliegenden Arbeiten in der Normalarbeitszeit hätte verrichten können.
Es bleibt daher bei den nachfolgenden Grundsätzen zur Darlegung- und Beweislast im Überstundenprozess:
Arbeitgeber sollten sich vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des BAG bestmöglich aufstellen, um für etwaige Prozesse über die Abgeltung von Überstunden gewappnet zu sein. Soweit der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung überträgt, ist besondere Vorsicht geboten. Denn in einem Überstundenvergütungsprozess könnte der Arbeitnehmer seine Aufzeichnungen als Leistungsnachweis nutzen und der Arbeitgeber dem nichts entgegenhalten. Die folgenden Maßnahmen sind daher je nach Gestaltung des Einzelfalls zu empfehlen:
Gerne überprüfen und ergänzen wir Ihre Arbeitsverträge hinsichtlich etwaiger Überstundenregelungen.
Axel Groeger
Partner
Rechtsanwalt
(groeger@redeker.de)
Ira Gallasch
Senior Associate
Rechtsanwältin
(gallasch@redeker.de)
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