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BAG: Genderstern (*) symbolisiert alle Geschlechter und indiziert keine Benachteiligung wegen des Geschlechts

Durch die Verwendung des Gendersterns * als symbolhaftes Sonderzeichen wird typischerweise mitgeteilt, dass sich eine Ausschreibung an jede die Anforderungen erfüllende Person richtet und das Geschlecht – gleich welches – bei der Auswahlentscheidung keine Rolle spielen wird. Dies hat das BAG u. a. unter Hinweis auf die Verwendung des * auch durch die Antidiskriminierungsstelle des Bundes entschieden (Urt. v. 23.11.2023 – 8 AZR 164/22).

Der Fall

Die klagende Partei wurde zweigeschlechtlich geboren und bezeichnet sich als Hermaphrodit. Sie bewarb sich 2019 auf eine Stellenausschreibung der Beklagten, mit der diese „Fallmanager*innen“ in einem bestimmten Aufgabengebiet suchte. In ihrer Bewerbung bat die klagende Partei im Rahmen des Auswahlverfahrens die Anrede „Sehr geehrte* Herm F“ zu verwenden. Die Abkürzung „Herm“ stehe für die ersten vier Buchstaben von Hermaphrodit. Mit E‑​Mail vom 4. November 2019 wandte sich die Beklagte unter Verwendung der Anrede „Sehr geehrte(r) Frau/​Herr F“ an die klagende Partei und lud sie zu einem Vorstellungsgespräch ein. Die klagende Partei wurde um eine kurze telefonische Nachricht gebeten, sofern sie diesen Termin nicht wahrnehmen könne. Am 6. November 2019 teilte die klagende Partei per E‑​Mail mit, dass sie an dem vorgeschlagenen Termin schon einen anderen Termin habe, weshalb sie um einen Ersatztermin bitte. Die Beklagte teilte der klagenden Partei mit E‑​Mail vom 7. November 2019 – nun unter der Anrede „Sehr geehrte Herm F“ – mit, dass kein Ersatztermin eingeräumt werden könne, weil das Stellenbesetzungsverfahren nicht weiter verzögert werden solle.

Die Entscheidung des BAG

§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Absenkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streitfall die Partei, die eine Entschädigung wegen einer Diskriminierung geltend macht, lediglich Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. einer Schwerbehinderung vermuten lassen, trägt die andere Partei, d. h. in der Regel der Arbeitgeber, die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Es bedarf des Vortrags von Indizien, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes bzw. wegen der Schwerbehinderung erfolgt ist.

Der Begriff des Geschlechts in § 1 AGG bezieht sich auf die biologische Zuordnung zu einer Geschlechtsgruppe und erfasst auch die geschlechtliche Identität von Menschen, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind. Damit werden intersexuelle, zweigeschlechtliche bzw. intergeschlechtliche Menschen vor geschlechtsbezogenen Benachteiligungen geschützt.

Schreibt der Arbeitgeber eine Stelle entgegen § 11 AGG unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 AGG aus, kann dies die Vermutung iSv. § 22 AGG begründen, dass die sich erfolglos bewerbende Person im Auswahl‑/​Stellenbesetzungsverfahren wegen eines Merkmals iSv. § 1 AGG benachteiligt wurde. Zur Vermeidung der Vermutungswirkung in Bezug auf das in § 1 AGG enthaltene Merkmal „Geschlecht“ hat eine Ausschreibung daher geschlechtsneutral zu erfolgen. Sie muss sich an Menschen jedweden Geschlechts richten, nicht nur an Männer und Frauen.

Der Genderstern * drängt kein „drittes Geschlecht als Lückenbüßer zwischen Mann und Frau“. Er verleugnet auch nicht die Existenz zweigeschlechtlicher Menschen. Er symbolisiert nach allgemeinem Sprachgebrauch vielmehr alle Geschlechter. Auch die Ansprache „schwerbehinderter Bewerberinnen und Bewerber“ im weiteren Text der Stellenausschreibung indiziert keine Benachteiligung zweigeschlechtlicher Menschen. Die Formulierung bezieht sich zwar nur auf Männer und Frauen. Aus dem Gesamtzusammenhang der Ausschreibung ergibt sich jedoch, dass auch zweigeschlechtliche Menschen zu einer Bewerbung aufgefordert werden sollen. Schon der voranstehend verwendete Genderstern verdeutlicht die Geschlechtsneutralität. Schließlich indiziert auch die in der E‑​Mail der Beklagten vom 4. November 2019 unterlassene Verwendung der Anrede „Sehr geehrte* Herm“ keine Benachteiligung wegen des Geschlechts. Zwar hat die klagende Partei schon bei ihrer Bewerbung einen entsprechenden Anredewunsch geäußert. Die Nichtberücksichtigung dieses Wunsches lässt aber nicht auf eine Benachteiligung schließen, da der Arbeitgeber auch aus Gründen des Diskriminierungsschutzes nicht gehalten ist, eine eher unbekannte und unübliche Ausdrucksweise zu verwenden. Zudem hat die Beklagte hier in ihrer weiteren E‑​Mail vom 7. November 2019 wunschgemäß die Anrede „Herm“ verwendet.

Konsequenzen für die Praxis

Die Entscheidung ist zu begrüßen. Das BAG hat zu Recht die Stellenausschreibung insgesamt gewürdigt und der Verwendung des Gendersternchens ein höheres Gewicht beigemessen als weiteren Formulierungen in der Stellenanzeige bzw. der nachfolgenden Korrespondenz.

Weiterführender Hinweis

Die ausgeschriebene Stelle befand sich im öffentlichen Dienst. Öffentliche Arbeitgeber sind gehalten, schwerbehinderte Menschen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, es sei denn, dass die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Die Bewerber*innen sollen hiermit eine bessere Chance im Auswahlverfahren erhalten. Die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch nach § 165 Satz 3 SGB IX ist nicht mit dem Anbieten eines einzigen Vorstellungstermins erfüllt, wenn der schwerbehinderte Mensch seine Verhinderung vor der Durchführung des Termins unter Angabe eines hinreichend gewichtigen Grundes mitteilt und dem Arbeitgeber bei Vornahme einer Gesamtschau das Anbieten eines Ersatztermins in zeitlicher und organisatorischer Hinsicht zumutbar ist. Eine formale Beschränkung der Einladungspflicht auf das Anbieten eines einzigen Termins würde der Zielsetzung des § 165 Satz 3 SGB IX, im Auswahlverfahren die Chancen schwerbehinderter Bewerber zu verbessern, nicht gerecht. (Näheres zum rechtssicheren Design für Bewerbungsverfahren ohne Diskriminierung Schwerbehinderter siehe Groeger, ArbRB 2022, 275).

Axel Groeger

Axel Groeger
Partner

Rechtsanwalt
(groeger@redeker.de)

BAG: Der Fremdgeschäftsführer einer GmbH kann Arbeitnehmer im Sinne des BUrlG sein

Der Anspruch als Fremdgeschäftsführer einer GmbH auf Urlaubsabgeltung ergibt sich unmittelbar aus § 7 Abs. 4 BUrlG. Dies folgt – unabhängig davon, ob der Geschäftsführer nach nationalem Recht als Arbeitnehmer anzusehen ist – aus einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/​EG konformen Auslegung der Vorschrift (BAG vom 25.7.2023 – 9 AZR 43/22).

Der Fall

Die Klägerin war bei der Beklagten seit dem 12.4.2012 als Geschäftsführerin angestellt, zuletzt aufgrund des Dienstvertrages vom 26.5.2016 zu einem durchschnittlichen Bruttomonatsgehalt in Höhe von 6.454,00 Euro. Sie hatte Anspruch auf 33 Urlaubstage im Jahr. Davon nahm sie im Jahre 2019 11 Tage und im Jahr 2020 keine.

Die Klägerin wurde seit 2018 in einer Geschäftsstelle einer zur Unternehmensgruppe der Beklagten gehörenden GmbH eingesetzt. Die Beklagte stellte dieser GmbH „ihre Geschäftsführerin … im erforderlichen Umfang für den o. g. Tätigkeitsbereich zur Verfügung“. Nach Anweisung der Geschäftsführung hatte die Klägerin eine Arbeitszeit von 07:00 Uhr bis 18:00 Uhr einzuhalten. Vormittags musste sie am Telefon eine sog. „Kaltakquise“ durchführen, am Nachmittag hatte sie in eigener Initiative Leistungen anzubieten und wurde im Außendienst, zu Kundenbesuchen und mit Kontroll- und Überwachungsaufgaben eingesetzt. Sie hatte wöchentlich 40 Telefonate und 20 Besuche nachzuweisen. Außerdem führte sie Vorstellungsgespräche und Einstellungsverhandlungen. Die Parteien vereinbarten zudem die Zahlung einer vom Ergebnis der Geschäftsstelle abhängigen Tantieme.

Nach Amtsniederlegung, Austragung aus dem Handelsregister und anschließender Eigenkündigung der Klägerin, erbrachte die Klägerin seit dem 30.8.2019 bis zur Beendigung des Vertragsverhältnisses (30.6.2020) keine Leistungen mehr und legte der Beklagten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor.

Die Entscheidung des BAG

Das BAG hat festgestellt, dass die Klägerin auch als Geschäftsführerin Urlaubsabgeltung verlangen kann. Der Anspruch als Fremdgeschäftsführerin einer GmbH ergebe sich unmittelbar aus § 7 Abs. 4 BUrlG. Dies folge – unabhängig davon, ob die Klägerin nach nationalem Recht als Arbeitnehmerin anzusehen ist – aus einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/​EG konformen Auslegung der Vorschrift.

Nach § 1 BUrlG hat jeder Arbeitnehmer in jedem Kalenderjahr Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub. Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er gemäß § 7 Abs. 4 BUrlG abzugelten. Nach § 2 BUrlG unterliegen dem Geltungsbereich des Bundesurlaubsgesetzes Arbeiter und Angestellte sowie die zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Als Arbeitnehmer gelten zudem arbeitnehmerähnliche Personen.

Durch das Bundesurlaubsgesetz werden die Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/​EG umgesetzt. Die nationalen Gerichte sind gehalten, innerstaatliches Recht so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auszulegen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen. Für die Auslegung des Arbeitnehmerbegriffs in § 2 BUrlG bedeutet dies, dass die vom Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten Grundsätze zum Arbeitnehmerbegriff heranzuziehen sind. Der unionsrechtliche Arbeitnehmerbegriff ist maßgeblich, wenn – wie vorliegend mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/​EG – eine unionsrechtliche Regelung angewandt und in nationales Recht richtlinienkonform umgesetzt oder ausgelegt werden muss. Er beeinflusst nationales Recht dort, wo unionsrechtliche Vorgaben für die Regelungsmaterie existieren.

Der Arbeitnehmerbegriff im Rahmen der Richtlinie 2003/88/​EG ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es nicht ausgeschlossen, dass das Mitglied eines Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft „Arbeitnehmer“ im Sinne des Unionsrechts ist, selbst wenn der Grad der Abhängigkeit oder Unterordnung eines Geschäftsführers bei der Ausübung seiner Aufgaben geringer ist als der eines Arbeitnehmers im Sinne der üblichen Definition des deutschen Rechts. Zu prüfen sind die Bedingungen, unter denen das Mitglied der Unternehmensleitung bestellt wurde, die Art der ihm übertragenen Aufgaben, der Rahmen, in dem diese Aufgaben ausgeführt werden, der Umfang der Befugnisse des Betroffenen und die Kontrolle, der es innerhalb der Gesellschaft unterliegt, sowie die Umstände, unter denen es abberufen werden kann.

Sofern ein Geschäftsführer eine entgeltliche Leistung für die Gesellschaft erbringt, welche nach Weisung oder unter Aufsicht eines anderen Gesellschaftsorgans erfolgt, er in den Betrieb eingegliedert ist und jederzeit und einschränkungslos abberufen werden kann, gilt der Geschäftsführer im Sinne des Unionsrechts als Arbeitnehmer und hat folglich (auch) einen Anspruch auf Urlaubsabgeltung nach § 7 Abs. 4 BUrlG. Diese Voraussetzungen liegen im Sinne des Unionsrechts regelmäßig bereits dann vor, wenn der Geschäftsführer eine Minderheitsbeteiligung ohne Sperrminorität hat oder überhaupt nicht am Gesellschaftskapital beteiligt ist.

Konsequenzen für die Praxis

Unterfällt der Geschäftsführer dem persönlichen Anwendungsbereich des BUrlG, verfällt der Urlaubsanspruch grundsätzlich mit Ablauf des Kalenderjahres beziehungsweise des Übertragungszeitraums. Der Arbeitnehmer muss den Urlaub nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im laufenden Kalenderjahr nehmen. Ein Verfall des Anspruchs erfordert aber, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen. Es bestehen daher gewisse Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers, deren Nichtbeachtung den Verfall des Urlaubsanspruchs verhindern (siehe dazu ausführlich den nachfolgenden Beitrag).

Da eine GmbH als juristische Person nicht selbst handlungsfähig ist, bedarf sie der Vertretung durch ihren Geschäftsführer (§ 35 Abs. 1 Satz 1 GmbHG). Dieser muss daher die Hinweisobliegenheiten der Gesellschaft gegenüber ihren Arbeitnehmern erfüllen. Bei einem Geschäftsführer, der Arbeitnehmer im unionsrechtlichen Sinne ist, stellt sich insofern konsequenter Weise die Frage, wer diesen auf den Verfall des Urlaubs hinweisen soll/​muss.

Dies ist bisher in der Rechtsprechung nicht geklärt und in der Literatur umstritten. In Betracht kommt, dass die Gesellschafterversammlung diese Aufgabe übernimmt, da diese etwa auch nach § 46 Nr. 5 GmbHG für die Bestellung und Abberufung des Geschäftsführers zuständig ist (Boemke in: JuS 2024, 270, beck‑​online). Gute Argumente sprechen jedoch auch dafür, dass die Hinweisobliegenheit beim Geschäftsführer entfällt, da der Geschäftsführer aufgrund seiner Stellung als gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft das Urlaubsrecht kennt und (anderen) Arbeitnehmern gegenüber anwenden muss. So würde zum einen der Informationszweck der Hinweispflicht leerlaufen und zum anderen besteht kein Ungleichgewicht, welches den Geschäftsführer von der Wahrnehmung des Urlaubsanspruchs abhalten dürfte (Kuhn in: EuZA 2023, 292, beck‑​online).

BAG zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei langzeiterkrankten Mitarbeitern

Das BAG hat in mehreren Entscheidungen die Grundsätze konkretisiert, unter welchen Voraussetzungen nicht genommener (gesetzlicher) Urlaub bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern verfällt (Urteile v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19, v. 20.12.2022 – 9 AZR 401/19, v. 31.01.2023 – 9 AZR 107/20).

Dabei ist danach zu differenzieren, ob der Arbeitnehmer während des gesamten Urlaubsjahres erkrankt war oder die Erkrankung erst im Laufe des Urlaubsjahres begann. Im Falle einer Erkrankung während des gesamten Jahres verfällt der Urlaubsanspruch 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahres, auch wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Ist der Arbeitnehmer hingegen im Urlaubsjahr vor Beginn der Erkrankung noch tätig gewesen, verfällt noch nicht genommener Urlaub aus diesem Urlaubsjahr nur, wenn der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten vor Beginn der Erkrankung erfüllt hat. Hierbei geht das BAG nunmehr davon aus, dass der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten bereits bis Ende der ersten Januarwoche zu erfüllen hat, andernfalls trägt er das Risiko, dass ein Arbeitnehmer vor der Unterrichtung erkrankt und bis zum Beginn der Erkrankung nicht genommener Urlaub nicht gemäß der 15‑Monats‑​Frist verfällt.

Grundsatz: Urlaubsverfall setzt vorherige Unterrichtung des Arbeitgebers voraus

Das BAG hat im Jahr 2019 – im Anschluss an eine Entscheidung des EuGH – entschieden, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann gemäß § 7 Abs. 3 BUrlG verfällt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht in Anspruch genommen hat. Der Arbeitgeber könne seine Mitwirkungsobliegenheit in der Regel dadurch erfüllen, dass er dem Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform mitteilt, wie viele Urlaubstage ihm im Kalenderjahr zustehen, ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann, und ihn über die Konsequenzen belehrt, die eintreten, wenn dieser den Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt. Die Anforderungen an eine „klare“ Unterrichtung seien regelmäßig durch den Hinweis erfüllt, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer in der Lage war, seinen Urlaub im Kalenderjahr zu nehmen, er ihn aber nicht beantragt. Abstrakte Angaben etwa im Arbeitsvertrag, in einem Merkblatt oder in einer Kollektivvereinbarung seien hingegen grundsätzlich nicht ausreichend (Urteil v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15).

BAG zum Urlaubsverfall bei langzeiterkrankten Mitarbeitern

Nicht abschließend geklärt war in der Folge aber noch die Frage, inwieweit auch bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern Urlaub nur verfällt, wenn der Arbeitnehmer zuvor vom Arbeitgeber entsprechend unterrichtet wurde. Diese Frage hat das BAG nunmehr in mehreren Entscheidungen geklärt, wobei zwei Konstellationen zu unterscheiden sind.

1. Erkrankung während des gesamten Urlaubsjahres

Das BAG hat Ende 2022 zum einen den Fall entschieden, dass ein Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.3. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig bzw. voll erwerbsgemindert war. Das BAG urteilte, dass der Urlaubsanspruch in diesem Fall weiterhin nach Ablauf der 15‑Monats‑​Frist verfällt, und zwar unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen ist. Hier seien nicht Handlungen oder Unterlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers für den Verfall des Urlaubs kausal (Urteile v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 und v. 20.12.2022 – 9 AZR 401/19).

2. Erkrankung beginnt erst im Laufe des Urlaubsjahres

Zum anderen betrafen die Urteile des BAG aber auch den Fall, dass der Arbeitnehmer in dem maßgebenden Kalenderjahr noch tatsächlich gearbeitet hat, bevor er voll erwerbsgemindert oder auf Dauer erkrankt ist. Für diesen Fall hielt das BAG fest, dass es bei den bisherigen Grundsätzen bleibe und der bis zum Beginn der Erkrankung noch nicht genommene Urlaub nur dann nach Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten verfalle, wenn der Arbeitgeber zuvor seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei (Urteile v. 20.12.2022 – 9 AZR 245/19 und v. 20.12.2022 – 9 AZR 401/19).

Offen blieb nach diesen Entscheidungen aber noch die Frage, wann der Arbeitgeber seine Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheiten erfüllen muss, um nicht das Risiko zu tragen, dass ein Arbeitnehmer vorher erkrankt und infolgedessen der bis zum Beginn der Erkrankung nicht genommene Urlaub nicht verfällt.

Zu dieser Frage nahm das BAG Anfang 2023 Stellung (Urteil vom 31.1.2023 – 9 AZR 107/20). In dem zugrundeliegenden Fall war der Arbeitnehmer seit dem 18.1.2016 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Jahr 2019 dauerhaft erkrankt. Das BAG entschied, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich möglich sein müsse, den Arbeitnehmer vor dessen Erkrankung in die Lage zu versetzen, Urlaub zu nehmen. Solange dies aufgrund des frühen Zeitpunkts des Krankheitseintritts im Urlaubsjahr nicht der Fall sei, könne der Verfall des Urlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten abhängen. Aufforderung und Hinweis müssten nicht sofort nach Urlaubsentstehung erfolgen, aber unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern. Da die Berechnung des Urlaubsanspruchs und die Formulierung der Belehrung regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten bereiten würden, sei unter normalen Umständen eine Zeitspanne von einer Woche ausreichend. In der Regel handele der Arbeitgeber daher nicht unverzüglich, wenn er seine Mitwirkungsobliegenheiten erst später als eine Woche nach Urlaubsentstehung erfülle. Im konkreten Fall habe der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten bis zum 8.1.2016 nachkommen können und müssen, um zu verhindern, dass nach diesem Zeitpunkt nicht mehr genommener nicht verfällt. Allerdings lägen nach diesem Zeitpunkt bis zum Eintritt der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit am 18.1. nur fünf Urlaubstage, die der Arbeitnehmer noch hätte nehmen können, daher seien auch nur diese fünf Tage nicht verfallen.

Praxishinweis

Arbeitgeber haben ihre Arbeitnehmer transparent über ihren Urlaubsanspruch und einen möglichen Verfall zu unterrichten, andernfalls kann nicht genommener Urlaub weder verfallen noch verjähren – sondern sich ggf. über Jahre oder Jahrzehnte summieren. Um zu erreichen, dass die Urlaubstage, die ein Arbeitnehmer vor Beginn einer Dauererkrankung in dem entsprechenden Jahr nicht genommen hat, gemäß der 15‑Monats‑​Frist verfallen und nicht dauerhaft fortbestehen, sollte die (erste) Unterrichtung jeweils bereits innerhalb der ersten Woche des Jahres erfolgen – und eine zweite Unterrichtung im weiteren Verlauf des Jahres, z. B. im dritten Quartal.

Weiterführender Hinweis:

Die dargestellten Grundsätze gelten grds. nur für den gesetzlichen Mindesturlaub (20 Urlaubstage bezogen auf eine 5‑Tage‑​Woche). Für vertraglichen Mehrurlaub können abweichende Regelungen vereinbart werden. Erforderlich hierfür ist aber, dass sich aus dem Arbeitsvertrag eine klare Trennung mit unterschiedlichen Rechtsfolgen für den gesetzlichen Mindesturlaub und den vertraglichen Mehrurlaub ergibt. Folgt eine solche Differenzierung nicht hinreichend klar aus dem Arbeitsvertrag, gelten die Grundsätze für den gesetzlichen Mindesturlaub auch für den vertraglichen Mehrurlaub. Vor diesem Hintergrund sollten Arbeitgeber auf eine entsprechende Vertragsgestaltung achten.

Andreas Wirtz

Dr. Andreas Wirtz
Assoziierter Partner

Rechtsanwalt
(wirtz@redeker.de)

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