‑- – BGH, Urteil vom 06.10.2021 – IV ZR 96/1 –
Der BGH hat sich kürzlich erneut zu einer äußerst praxisrelevanten Frage des Pflichtteilsrechts geäußert, der Bewertung von Immobilien. Bei dieser besteht ein natürlicher Interessengegensatz zwischen Erben und Pflichtteilsberechtigten. Überspitzt: Wer zahlen soll, sieht eine „Bruchbude“, wer Ansprüche stellt, ein „Schloss“.
Enterbten Abkömmlingen und Ehegatten steht nach deutschem Recht ein Pflichtteil in Höhe der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils zu. Es handelt sich um einen Anspruch auf Geldzahlung. Maßgeblicher Stichtag für alle Werte ist der Zeitpunkt des Erbfalls. Zur Durchsetzung gewährt das Gesetz dem Pflichtteilsberechtigten einen Auskunfts- und einen Wertermittlungsanspruch (auf Kosten des Nachlasses), § 2314 BGB.
Der Pflichtteilsberechtigte ist nach dem Willen des Gesetzgebers wirtschaftlich so zu stellen, als wäre er mit einem dem Pflichtteil entsprechenden Bruchteil Erbe geworden. Aus diesem Beteiligungsgedanken, der Verfassungsrang genießt, ergibt sich, dass das gesetzliche Bewertungsziel darin besteht, den wirklichen bzw. „wahren“ Wert zu ermitteln; das stellt grundsätzlich das Ziel einer jeden zivilrechtlichen Bewertung dar. Aber was ist der „wahre“ Wert?
Der BGH geht im Ausgangspunkt davon aus, dass der „wahre“ Wert derjenige Wert ist, der im Rahmen einer Veräußerung erzielt werden könnte. Dementsprechend ist der Pflichtteilsberechtigte grundsätzlich so zu stellen, als sei der Nachlass zum Stichtag in Geld umgesetzt worden. Vor diesem Hintergrund hält der BGH in ständiger Rechtsprechung zeitnah nach dem Erbfall erzielte Kaufpreise für relevant und berücksichtigt diese als „wertaufhellende Tatsachen“, wenn über den Wert gestritten wird. Weil Bewertungen auf den Todeszeitpunkt mit Unsicherheiten verbunden sind, soll sich die Bewertung von Nachlassgegenständen, die bald („zeitnah“) nach dem Erbfall veräußert werden, grundsätzlich am tatsächlich erzielten Verkaufspreis orientieren, es sei denn, dass außergewöhnliche Verhältnisse vorliegen. Hat der „Markt gesprochen“, sollen sich die Beteiligten nicht auf (unsichere) Bewertungen verlassen müssen.
In der eingangs zitierten Entscheidung hat der BGH diese Grundsätze bestätigt, gleichzeitig klargestellt, dass eine zeitnahe Veräußerung einer Immobilie den in § 2314 BGB geregelten Anspruch auf Bewertung, bei Immobilien gerichtet auf Vorlage eines Verkehrswertgutachtens, nicht entfallen lässt. Gerade weil es in einem Prozess möglich bleiben soll, Tatsachen vorzutragen und unter Beweis zu stellen, nach welchen ein Kaufpreis nicht dem tatsächlichen Verkehrswert im Zeitpunkt des Erbfalles entspricht, hat der Pflichtteilsberechtigte auch in einer solchen Situation ein Interesse an einer neutralen Bewertung auf Kosten des Nachlasses. Erst diese versetzt ihn in die Lage abzuschätzen, ob die Veräußerung marktgerecht war und ob mit Erfolg trotz Veräußerung auf Auszahlung auf Basis eines höheren Gutachtenwertes geklagt werden könnte. Genau das, das heißt eine realistische Einschätzung der Prozessrisiken, soll der Wertermittlungsanspruch ermöglichen.
Dr Cornel Potthast, LL.M.
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